Einleitung in das "Memelgebiet"
Als Memelland beziehungsweise Memelgebiet, litauisch Klaipėdos kraštas, wird im deutschen Sprachraum jener in der Zwischenkriegszeit von Deutschland abgetrennte Landesteil Ostpreußens bezeichnet, der nördlich der Memel bzw. des Russ gelegen ist, sowie der entsprechende Teil der Kurischen Nehrung.
Im Zweiten Weltkrieg wurde es von der Roten Armee erobert und nach dem Fall Memels am 28. Januar 1945 zugleich der Litauischen SSR angeschlossen.
Im Ersten Weltkrieg wurde unter deutscher Besatzung Litauen für unabhängig erklärt, im März 1918 vom Deutschen Reich anerkannt, im November aus einem Königreich in eine Republik umgewandelt. Im Sommer 1919 wurde per Unterzeichnung des Vertrag von Versailles durch Festlegung der neuen Grenzen Ostpreußens (Artikel 28) das von nun an in Deutschland „Memelland” genannte Gebiet ohne Abstimmung vom Deutschen Reich abgetrennt und dem Mandat des mit Abschluss des Vertrages gegründeten Völkerbundes unterstellt. Der Versailler Vertrag beinhaltete auch die internationale Anerkennung Litauens.[1] Deutschland musste sich bereit erklären, eine später von den Alliierten zu treffende staatliche Zugehörigkeit des Memellandes anzuerkennen (Artikel 99). Das Mandatsgebiet wurde unter französische Verwaltung gestellt.
Mit Inkrafttreten des Vertrages zum 10. Januar 1920 wurde diese Schutzherrschaft eingerichtet. Am 4. Oktober 1920 erhielt das Memelland unter einem französischen Präfekten einen eigenen Staatsrat.
Die Abtrennung des Memellandes wurde mit dem dortigen litauischsprachigen Bevölkerungsteil begründet, der jedoch tatsächlich keinen litauischen Dialekt sprach, sondern einen Mischdialekt aus Prußisch, Kurisch und Žemaitisch, welcher sich erheblich vom polnisch beeinflussten hochlitauischen Aukschtaitisch unterschied und eine Verständigung mit den Hochlitauern fast unmöglich machte. Ein minimaler Teil dieser Minderheit hatte im Akt von Tilsit eine Angliederung an Litauen gefordert. Große Teile auch der einen baltischen Dialekt sprechenden Bevölkerung des Memellandes fühlten sich jedoch eher zu Ostpreußen als zum neuen litauischen Nationalstaat zugehörig. Dazu kam ein starker kultureller Gegensatz: Die Memelländer waren zu mehr als 95 % evangelisch, während das übrige Litauen katholisch war und lange Zeit unter polnischer beziehungsweise russischer Herrschaft gestanden hatte. Wirtschaftlich war das Memelland weiter entwickelt als Litauen.
Die junge Republik Litauen war bis zum Friedensvertrag von Moskau im Juli 1920 in den russischen Bürgerkrieg verwickelt. Außer wegen der Sprache erhob sie Ansprüche auf Memel (litauisch Klaipėda), um einen fertig entwickelten Seehafen zu bekommen. Litauen verfügte nur über den kleinen Ostseehafen von Palanga (dt. Polangen).
Ab 1922 grassierte in Deutschland die Inflation, die auch das Memelgebiet betraf.
Nach dem Ergebnis einer von den Franzosen genehmigten Unterschriftenaktion sowie einer vorläufigen Entscheidung der Botschafterkonferenz sollte das Memelland auf mindestens zehn Jahre in einen „Freistaat Memelland“ umgewandelt werden.
Jean Gabriel Petisné, der seit dem 31. März 1920 in Memel als Verwaltungsbeamter der französischen Militärmission arbeitete, wurde am 8. Juni 1920 zum Zivilkommissar des Memellandes ernannt und erhielt am 1. Mai 1921 nach Rückkehr von General D. Odry nach Frankreich den Status eines Hochkommissars.
Besetzung durch litauische Kräfte 1923: „Klaipėda-Revolte”
Ab 10. Januar 1923, gleichzeitig mit der Besetzung des Ruhrgebiets durch Frankreich und Belgien, besetzten über 1.000 bewaffnete Litauer im Handstreich („Klaipėda-Revolte”) das Memelland und die Stadt Memel. Offiziell wurde dies als interner memelländischer Aufstand bezeichnet, die Aktion wurde jedoch von Litauen aus mit einem „Schützenbund” und Mitgliedern regulärer Truppen durchgeführt, in Zivilkleidung, aber markiert mit Armbinden (MLS, lit. Mažosios Lietuvos sukilėlis, kleinlitauischer Aufständischer). Unterstützung aus dem Memelland war dabei vernachlässigbar. Die in zahlreichen litauischen Veröffentlichungen erwähnten 300 Memelländer schlossen sich der Bewegung erst an, nachdem diese erfolgreich beendet war.[2] Bekannte Einheimische ließen sich nicht als „Anführer” anwerben, sodass der Anführer Jonas Polovinskas unter dem Namen eines ehemaligen deutschen Offiziers (Budrys) auftrat.
Die 200 französischen Alpenjäger, von der Ausbildung und Ausrüstung her den Freischärlern überlegen, wurden zwar durch einige Hundert deutsche Polizisten und Freischärler unterstützt, ließen sich aber nach zwei Tagen in ihre Kaserne und die Präfektur zurückdrängen. Auch diese wurde gestürmt, nach französischen Angaben von über 5.000 Gegnern. Als Verluste gelten zwölf litauische Freischärler, zwei Franzosen und ein deutscher Gendarm, dessen Familie vom Führer der litauischen Freischärler finanziell entschädigt wurde.
Später per Schiff anreisende Truppen aus Frankreich und England traten angesichts der neuen Herrschaftsverhältnisse unverrichteter Dinge wieder die Heimreise an. Es gibt ein sehr umstrittenes Gerücht, die litauische Besetzung des französisch verwalteten Gebietes sei mit Billigung der deutschen Regierung bzw. von Reichswehrchef General Hans von Seeckt unter Tolerierung der ostpreußischen Grenzpolizei geschehen, um Litauen gegenüber dem gemeinsamen Gegner Polen zu stärken. Bekannt ist dagegen, dass die Freischärler Waffen aus deutscher Produktion besaßen. Die Litauer hatten von Deutschland 1500 deutsche Gewehre, fünf leichte Maschinengewehre und viel Munition zu günstigen Bedingungen erhalten, für die Ernestas Galvanauskas aus einem geheimen Fonds (Mažosios Lietuvos Fondas) zahlte. Beim Aufmarsch der litauischen Kämpfer mischte sich die deutsche Polizei nicht ein.
Autonome Region Litauens
Diplomatisch konnte Litauen glaubhaft machen, dass es sich um einen Aufstand örtlicher Kräfte handelte, die den Anschluss suchten, und dass nicht auf Befehl der litauischen Regierung gehandelt wurde. Am 19. Januar 1923 verließen die französischen Truppen und Verwaltungskräfte das Land. Am 16. Februar 1923 erkannte die Botschafterkonferenz die Angliederung des Memelgebietes an Litauen als Faktum an und übergab formell die Hoheit über das Gebiet an Litauen.
Der Anschluss wurde 1924 in der Memelkonvention vom Völkerbund anerkannt; zu ihren Bestimmungen gehörte eine Autonomie des Memellandes innerhalb Litauens. Das Autonomiestatut wurde vom litauischen Parlament am 8. Mai 1924 beschlossen.[3] Mit der Annexion verloren die Memelländer die deutsche Staatsangehörigkeit und wurden Litauer. Sie konnten allerdings für die deutsche Staatsbürgerschaft optieren.
Die Wahl zum Landtag 1925 erbrachte hohe Stimmenanteile (> 80 %) für die deutschsprachigen, die Autonomie vertretenden Parteien. 1926 wurde per Kriegsrecht die Autonomie weitgehend aufgehoben, die weiteren Wahlergebnisse fielen aber weiter eindeutig gegen die Litauer Militärdiktatur von Antanas Smetona aus.
Auf Grund polnischen Drucks gelangten verantwortliche litauische Politiker zu der Überzeugung, das Verhältnis zu Deutschland zu verbessern: „So war Mitte September 1938 Legationsrat von Grundherr im Auswärtigen Amt zweimal von dem litauischen Journalisten – Chefredakteur des halbamtlichen ‚Lietuvas Aidas‘ – Gustainas, der gute Beziehungen zum Staatspräsidenten Smetona, zum Ministerpräsidenten Mironas und auch zum litauischen Außenminister hatte, besucht worden. Von Grundherr berichtete, daß Gustainis sehr offenherzig die Befürchtung äußerte, die Memelbevölkerung könne das Selbstbestimmungsrecht und die Volksabstimmung verlangen. Für die Behaltung des Memelgebietes könne Litauen nicht seine ganze Existenz aufs Spiel setzen. Es sei besser, sich mit der deutschen Regierung ins Benehmen zu setzen, falls sie den Litauern Rechte am Memeler Hafen belassen würde. Deutliche Anzeichen, daß litauischerseits eine Bereitwilligkeit bestand, auch über das Memelgebiet hinaus Konzessionen zu machen, ergaben sich Anfang Dezember 1938. So wurde am 1. Dezember 1938 Peter Kleist von der Dienststelle Ribbentrop, einem Privatbüro des Außenministers in seiner Eigenschaft als Ratgeber Hitlers in außenpolitischen Angelegenheiten, von dem litauischen Generalkonsul in Königsberg Dymscha aufgesucht, um über das deutsch-litauische Verhältnis und insbesondere über das Memelgebiet zu sprechen.“[4]
Noch heute werden die damals populären Argumente wiederholt, obwohl das Gegenteil beweisende litauische Archive seit 1990 öffentlich zugänglich sind und internationale Konferenzen zu diesem Thema stattfanden. 1965 waren die damals noch lebenden Führer der Annexion nicht bereit, die Wahrheit zu sagen, aus Furcht, Litauen könnte wegen des Skandals von Betrug und Konspiration kompromittiert werden.[5]
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Tobias Huylmans